In deutschen Schulen ist auch im Jahr 2013 die klassische Tafel weiterhin Standard. Zwar gibt es vereinzelt Experimente mit elektronischen „Whiteboards“ und Tablet-Rechnern im Klassenzimmern, doch überwiegend werden die neuen Technologien eher kritisch gesehen. Oder die Lehrer wissen schlicht und einfach nicht, was sie damit anfangen sollen. Dabei kann die Computernutzung im Unterricht ganz neue Lernwelten eröffnen – besonders wenn dabei zusätzlich Gamification ins Spiel kommt. Denn mit der Kombination von Technik und Spiel lässt sich auch im Bereich Bildung und Wissenschaft oft mehr erreichen als auf den üblichen Pfaden.
Gamification-Kritiker bemängeln ja gerne, dass der Ansatz zu viel mit Marketing und zu wenig mit wirklich sinnvollen, nachhaltigen Lösungen zu tun hat, die uns alle nach vorne bringen. Oder auch: Das Potenzial von Gamification wird bisher höchstens ansatzweise genutzt. Tatsächlich gibt es zum Beispiel im Bereich Bildung und Wissenschaft bisher nur wenige größere Projekte, bei denen das Spiel als Ausgangsbasis genutzt wird. Doch immerhin ist mit diesen Projekten bereits viel bewegt worden bzw. es wird damit Bewegung in erstarrte Strukturen gebracht. Auf jeden Fall sind sie es Wert, hier vorgestellt zu werden – als wichtige Anregung für die Zukunft.
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Die Schwarmintelligenz nutzen: fold.it

Kann man Krankheiten wie AIDS oder Alzheimer mit Computerspielen heilen? Nein, kann man natürlich nicht. Aber man kann Computerspiele nutzen, um über das gemeinsame Wissen vieler Menschen neue Lösungsansätze zu finden, mit denen sich schwere Krankheiten vielleicht einmal therapieren lassen. Ein Beispiel dafür ist fold.it. Entwickelt an der Universität von Washington, soll das Spiel Wissenschaftlern bei der Optimierung von Proteinen helfen. Dafür darf von den Nutzern gepuzzelt werden, so viel sie möchten – jeder Spielzug bringt die Wissenschaft weiter voran. Die Spieler werden für ihren Einsatz mit Punkten belohnt, Ziel ist ganz klassisch der Top-Score.
Um sich zu beteiligen, muss man keineswegs selber ein Wissenschaftler oder ein kleines Genie sein – einzige Voraussetzungen sind ein Rechner und die Lust am Spiel. Auf der fold.it-Webseite steht inzwischen eine Vielzahl von Puzzles zur Auswahl. Einsteiger starten mit den Varianten für Beginner und können sich dann langsam vorarbeiten zum Expertenmodus. fold.it hat bereits erste Erfolge nachzuweisen: 2011 entschlüsselten die Spieler gemeinsam die Struktur eines Proteins, das bei Rhesusaffen AIDS auslöst.
Mit Maulwürfen ans Ziel: DigiTalkoot

Ebenfalls auf eine Mischung aus Crowdsourcing und Gamification setzt die finnische Nationalbibliothek mit DigitalKoot. Bei diesem Browserspiel helfen die Spieler Maulwürfen, sich aus misslichen Lagen zu befreien – und unterstützen damit ganz nebenbei die Digitalisierung der Nationalbibliothek. Deren Archive waren zwar schon automatisch per Computer weitgehend erfasst worden – doch die Rechner machten Fehler, die wiederum eine digitale Nutzung der Dokumente schwierig machten. Um die Lücken zu ergänzen – eine ziemlich mühsame Aufgabe – wurde menschliche Hilfe benötigt.
Gemeinsam mit einem Software-Spezialisten erdachten sich die Bibliothekare aus dem hohen Norden deshalb das Spiel mit dem Maulwürfen, das im November 2011 online ging. Die Idee war ein großer Erfolg – mehr als acht Millionen Fehler wurden von den Spielern korrigiert. Phase 1 ist inzwischen abgeschlossen, doch die Bbliothek wird DigiTalkoot wohl auch in Zukunft weiter nutzen.
Machen Computerspiele Kinder schlau?
Die meisten Kinder starten mit großer Begeisterung und Neugier ins Schulleben. Doch beides schwindet oft schnell. Denn statt selber den Dingen auf den Grund gehen zu können, stehen vor allem Frontalunterricht und Auswendiglernen auf dem Lehrplan. Spielen? Höchstens in den Pausen. Dabei haben Wissenschaftler wie André Frank Zimpel von der Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bewegungswissenschaft der Universität Hamburg mittlerweile nachgewiesen, dass Spielen schlau macht und es sich unter positiven Bedingungen wesentlich besser lernen lässt als unter Druck.
Gamification-Guru Gabe Zichermann hat sich speziell mit dem Thema wie Kinder per Computerspiel besser lernen auseinandergesetzt. Seine These (bei der er sich auf verschiedene Wissenschaftler beruft): Computerspiele machen entgegen aller Vorurteile nicht dumm, sondern schlau. Hier könnten Kinder nicht nur Multitasking-Fähigkeiten erlernen, sondern auch wichtige Schlüsselqualifikationen wie kreative Problemlösung und Networking.
Die Schule als Computerspiel: Quest to learn
Das Konzept von „Quest to learn“ nutzt die Erkenntnisse der Spielforschung – und wirkt im Vergleich zum herkömmlichen Schulsystem wie absolute Zukunftsmusik. In New York ist diese Zukunft jedoch schon Realität. 2009 wurde dort die öffentliche Schule „Quest to learn“ als innovatives Projekt gestartet, in dem Spiel und Spieldesign als Basis für den Stundenplan und für das Lernen genutzt werden. Die Begründer von Quest to learn gingen von der Frage aus: „Wieso können sich Kinder und Jugendliche stundenlang auf ein (Computer-)Spiel konzentrieren, verlieren aber im Unterricht innerhalb weniger Minuten die Geduld?“.
Ihrem Ansatz nach ermöglichen Spiele Kindern, sich in komplexe Problemlagen zu begeben und selber Wege aus diesem Problem herauszufinden, in dem sie sich selber Fragen stellen, Dinge ausprobieren und ihre Handlungen immer wieder kritisch unter die Lupe nehmen. Weshalb diese Mechanik also nur für Fantasy-Abenteuer und ähnliches nutzen? Wieso nicht auch Geschichte, Erdkunde, Mathematik oder Physik damit einfacher und unterhaltsamer zugänglich machen?
Der Gamification-Ansatz wird an der Schule, die von der 6. bis zur 12. Klasse reicht, ernst genommen. Es geht bei Weitem nicht nur darum, ein paar lustige Spielchen zu entwickeln, um computer-gewöhnten Teenies zwischendurch etwas Abwechslung zu bieten. Die Unterrichtinhalte erarbeiten die Lehrer – die bei Quest to learn zu sogenannten Wissenspaten werden – grundsätzlich gemeinsam mit einem Game-Designer. Die Lehrer geben vor, welche Inhalte wann behandelt werden müssen, welche Lernziele es gibt. Die Game-Designer entwickeln dann komplette Unterrichtsszenarien. Ziel ist es, die Schüler über das Klassenzimmer hinaus einzubinden und für das Lernen zu begeistern, sie in eine „Lern-Umwelt“ eintauchen zu lassen.
Statt Arbeitsheft für Arbeitsheft durchzuarbeiten bekommen die Schüler anfangs jedes Trimesters Aufgaben oder Missionen gestellt, für die sie selber Lösungen entwickeln müssen. Mittels eines eigens entwickelten Computerspiels lotsen sie sich zum Beispiel wochenlang gegenseitig durch den menschlichen Körper, arbeiten an den verschiedenen Aufgaben und lernen mehr oder weniger nebenbei, wie der menschliche Körper funktioniert.
In der Schule, die mittlerweile in mehreren US-amerikanischen Städten Ableger gefunden hat, gibt es keine normalen Stundenpläne mehr. Gelernt wird in sogenannten Domains, in denen der Stoff kombiniert ist, der sinnvoller Weise zusammenpasst. Denn viele Fächer ergänzen einander – und dieses Ganze zu sehen ist entscheidend, um einmal erlerntes Wissen auch auf anderen Gebieten anwenden zu können. Naturwissenschaften inklusive Mathe sind zum Beispiel in der Domain „The way things work“ zusammengefasst.
Computer und Internet begleiten die Kinder nicht nur während des Schultags. In der Regel sind die Schüler vom Aufstehen an online, etwa um die anstehenden Quests für den Tag abzurufen. Nach der Schule treffen sie sich in der schuleigenen Community, um dort vernetzt weiter zu lernen und zu forschen. Von Seiten der Schule wird aber betont, dass es bei Quest to learn nicht nur den Computer und das Internet gibt. Man achte auf eine gesunde Mischung aus Online- und direkten Kontakten.
Aber es gibt natürlich trotzdem noch eine Reihe von Punkten, die man durchaus kritisch sehen kann. Da es sich bei Quest to learn um ein Modellprojekt handelt, das erst seit vergleichsweise kurzer Zeit läuft, gibt es derzeit noch keine verlässlichen Daten, ob es sich per Computerspiel tatsächlich leichter und nachhaltiger lernen lässt. Bis jetzt haben die Schüler bei den Prüfungen allerdings gut abgeschnitten, so die Schule.
Fraglich ist auch, ob sich das Konzept tatsächlich 1:1 auf das deutsche Schulsystem übertragen lässt. Viele der Ideen brauchen eine große Portion typisch amerikanischen Enthusiasmus und von Seiten der Pädagogen eine völlig neue Einstellung im Hinblick auf den Unterricht. Und nicht zuletzt erfordern Schulen wie Quest to learn mit ihrer umfassenden technischen und personellen Ausstattung Budgets, die für deutsche Schulen wohl kaum vorstellbar sind.
Fazit
Alle drei hier vorgestellten Projekte haben eines gemeinsam: Sie setzen auf die Intelligenz und die Leistung der Gemeinschaft. Natürlich geht es in den Spielen auch darum, ganz oben in der Rangliste zu landen und der Beste zu sein. Aber letztendlich zählt das große, übergeordnete Ziel – sei es die Entschlüsselung eines Proteins, sei es ein guter Abschluss für die gesamte Schulklasse. Und genau das ist aus Sicht von Gamification-Experten der entscheidende Punkt, um Menschen dauerhaft zum Mitspielen zu bewegen: Es muss wirklich um etwas gehen, wir müssen in diesen Spielen auch einen Sinn sehen.